Bereits 31 Prozent der Deutschen verwenden Fitness Tracker zur Aufzeichnung ihrer Gesundheitsdaten. Dieser Körperkult wird für viele zur Ersatzreligion, in der es gilt das Leben mit Sinn und die Apps mit Daten zu füllen.
Das Außergewöhnliche wird Gewöhnlich
Besondere Leistung war bisher außergewöhnlich. Jetzt soll sie Alltag werden: Wir optimieren pausenlos den Alltag und unser Leben. Egal ob Schulnoten, Unternehmenskennzahlen, Gehalt, Körpergewicht oder sportliche Leistungsfähigkeit: Alles kann gemessen und soll verbessert werden. Wir haben verinnerlicht, dass ein Leben besonders lebenswert und erfolgreich wird, wenn wir ständig an Körper, Geist und Seele für höheren Output arbeiten. Wer nur in die Luft oder aus dem Fenster schaut, bleibt zurück. Wir wollen unsere eng bemessene Zeit optimal nutzen und dabei maximalen Output generieren. Fitness Apps und Tracker sollen dabei helfen. Sie sind der neue digitale Spiegel einer Leistungsgesellschaft und versprechen Leistungs- und Selbstoptimierung.
Ich bin besser als du!
Egal ob man jogged oder mit dem Rad fährt, wer seine Daten sammelt und sogleich im Internet teilt, wird laut angefeuert. Man benötigt dazu nur eine passende App im Handy und macht selbiges sogleich zum Fitnesstracker und Optimierungszentrale. Hinzu kommt ein ungebremstes Bedürfnis nach Selbstdarstellung, das durch Social Media befeuert wird. Denn die wahre Belohnung für die Plackerei sind nicht etwa die verbrannten Kalorien, sondern viel mehr die Likes und Kommentare. Wer sich mit seinen Laufrouten zur Schau stellt, wirkt Leistungsorientiert, gesund: Das fanden Arbeitswissenschaftler schon in den 1920er Jahren heraus, als sie in den amerikanischen Hawthorne Werken Arbeitsleistung messen sollten. Dabei stellten sie fest, dass diejenigen fleißiger waren, die beobachtet wurden.
Auswüchse der digitalen Fitness
Deutlich komfortabler als nur eine Handyapp und mit etwas mehr „Style“ kommen die sogenanntem Fitnessarmbänder daher. Sie sehen aus wie Uhren und zeichnen unbemerkt nicht nur zurückgelegte Kilometer, sondern auch andere alltägliche Aktivitäten wie das Treppensteigen oder das Schlafverhalten auf. In der Welt der Fitnessarmbändern ist Fitbit Marktführer. Im Jahr 2014 wurden laut IDC weltweit 26,4 Millionen Stück sogenannter Wearables verkauft, 2015 waren es bereits 79 Millionen. Mittlerweile gibt es auch schon Sportshirts mit eingebauten Sensoren, die Daten aufzeichnen und sogar Yogamatten, die rückmelden, ob eine Pose richtig oder falsch eingenommen wurde. Die Auswüchse der digitalen Fitnessindustrie sind vielfältig und ungebremst. Sie haben eines gemeinsam: Sie suggerieren maximale Lebensqualität durch körperliche Fitness und lassen uns glauben, dass wir damit höchst persönliche Individualität und absolute Freiheit wahren. Doch Achtung: Das Gegenteil ist meistens der Fall.
Die Lüge der Freiheit
Mit Freiheit hat das große Datensammeln nämlich nichts zu tun. Versicherungen und Krankenkassen haben höchstes Interesse daran nicht nur Einsicht, sondern auch Einfluss zu nehmen. Wer nachweislich fit ist, schlägt den günstigeren Tarif heraus.
Dies holt, wenig überraschend, längst Datenschützer auf den Plan. Ein Mensch unter Beobachtung ist nämlich alles andere als frei. Er gibt Macht ab, an diejenigen, die ihn observieren. Diese Machtabgabe geschieht zum Teil auch noch freiwillig: Jeder dritte Deutsche scheint laut Bitkom bereit, sich gegen finanzielle Vorteile kontrollieren zu lassen. Diejenigen, die nicht mitspielen, machen sich verdächtig und haben womöglich etwas zu verbergen.
Oder: Wer nicht mitmacht und seine Lebenszeit nicht optimal nutzt, ist selbst schuld. Apropos Lebenszeit: Für die Apple Watch gibt es eine „Clock of Life“. Anhand der Bewegungs-, Schlaf-, und Ernährungsdaten bemisst sie immer wieder neu eine zu erwartende Lebensdauer: Sie haben noch 35 Jahre, drei Monate, zwei Wochen, vier Tage, eine Stunde und 10 Minuten zu leben. Es klingt perfide, aber scheint dem Trend des „Quantified Self“ zu entsprechen, ein Begriff, der von den Journalisten Gary Wolf und Kevin Kelly bereits 2007 geprägt wurde. Wie gelangweilt muss man sein, um sich mit seiner Restlebenszeit beschäftigen zu müssen – anstatt die Momente zu genießen.
Die Entfremdung vom Selbst
Ursprünglich sollte „The Quantified Self“ dabei helfen, über eigene, vielleicht sogar unbewusste Gewohnheiten zu informieren. Der Erkenntnisgewinn für das Individuum stand im Mittelpunkt. Doch Privatsache sind diese Erkenntnisse schon lange nicht mehr:
So hat zum Beispiel ein Startup aus München eine App entwickelt, die anhand der Stimme am Telefon Emotionen entschlüsselt, über das Wischverhalten am Smartphone Stress identifiziert und sogar das Schlafverhalten in der Nacht beurteilt und schlussendlich eine Bilanz des Gemütszustandes an den Chef übermittelt. Laura Holmes, Mitarbeiterin einer Anwaltskanzlei in London, hat diese App bereits auf ihrem Handy installiert. Dabei gehe es angeblich nicht um das Aussortieren leistungsschwacher Mitarbeiter, sondern lediglich um das Wissen, wie einsatzfähig jemand sei. Wenn ein Mitarbeiter zum Beispiel Schlafprobleme habe, könne man gemeinsam daran arbeiten und so Fehlzeiten durch Krankenstand reduzieren. Dass ihr Chef nun so gut wie alles mitbekommt, stört die 29-Jährige nicht. Im Gegenteil: Sie findet, er solle bescheid wissen und Technologie solle genutzt werden, denn immerhin wisse sie dank dieser nun endlich wie es ihr selbst geht.
Besonders der letzte Satz lässt aufhorchen: Wie entfremdet ist der Mensch von sich selbst bereits, wenn er eine Software braucht um festzustellen, wie er geschlafen hat oder wie es ihm geht?
Wege aus dem Hamsterrad
Der Gegentrend heißt „Mindfulness“ oder „The dignified self“ und propagiert mehr Achtsamkeit im digitalen Zeitalter. Das Ziel ist es, etwas herzustellen, das viele von uns vielleicht schon verloren geglaubt haben: Den Draht zu sich selbst und das untrügliche Gespür für die eigene innere Stimme. Die Vermessung des Selbst mag Vorteile haben, der Spaß hört spätestens an dem Punkt auf, an dem es Software braucht, um uns über das eigene Wohlbefinden freundlich in Kenntnis zu setzen.
Mein neues Buch “Im digitalen Hamsterrad“ zeigt Wege aus der Falle der digitalen Selbstoptimierung und hilft, einen gesunden Umgang mit dem Smartphone zu finden. Gern übersende ich Ihnen ein beliebiges Kapitel kostenfrei zu, wenn Sie mir Ihre E-Mail-Adresse mitteilen.
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