Digitales Wachstum: „Deutschlands Wohlstand hängt von der Digitalisierung ab“
Digitales Wachstum lautet das Credo einiger politischer Vertreter und zahlreicher Digitalberater. Sie schauen auf die echte Welt, nur mehr durch den Filter der digitalen. Während Menschen alles aufzeichnen, verpassen sie das echte Leben. Das digitale Wachstum verspricht Licht, aber auch viel Schatten. Am Ende geht es um die Balance.
Der Hype um das Handy Spiel Pokémon-Go treibt gerade skurille Blüten: Seit Juli diesen Jahres scheint die ganze Welt auf der Jagd nach kleinen virtuellen Monstern den Verstand zu verlieren. Im bayrischen Ansbach knallte ein spielender Radfahrer gegen eine Betonmauer und verletzte sich schwer. Die Polizei in Großbritannien registrierte sogar knapp 300 Pokémon-Go Vorfälle, angefangen von Kindern, die auf Gräbern herumliefen, Körperverletzung und Raub, bis hin zu Sexualdelikten. In Japan gab es sogar einen tragischen tödlichen Unfall, als ein Spieler beim Autofahren und Monsterjagen eine Frau übersah. Die Nutzerzahlen flachen mittlerweile schon wieder dramatisch ab, der große Hype dürfte für Hersteller Nintendo vorerst vorbei sein. Doch was ist es, das Millionen Nutzer weltweit in kürzester Zeit so sehr in den Bann zog?
Pokémons: Suche nach Zugehörigkeit und Anerkennung
Pokémon-Go ist ein Spiel, das die virtuelle Welt mit der echten verknüpft. Gamer galten bisher als lichtscheue, blasse Wesen, die den ganzen Tag im dunklen Zimmer zockten. Mit Pokémon-Go wird die eigene Umgebung im Laufschritt erkundet. Blitzschnell verabredeten sich ganze Gruppen über soziale Medien und begaben sich gemeinsam auf Monsterjagd. Und das ist auch schon der zweite Grund für den Erfolg: Der Spieler sitzt nicht allein vorm Computer, sondern fühlt sich einer Gruppe zugehörig, sammelt im sozialen Verbund Monster ein.
So wird ein Bedürfnis erfüllt, das wir alle von Geburt an immer wieder befriedigen wollen: Dazugehören. Auch unser natürlicher Durst nach Anerkennung wird gestillt und das kann süchtig machen. Punkte sammeln und belohnt werden: Der Wettbewerb mit den anderen und die Verknappung der Pokémons heizen das Spiel zusätzlich an. Man könnte sagen: Spielend werden hier menschliche Urbedürfnisse (ersatz)befriedigt, die im wahren Leben womöglich ungestillt bleiben.
Licht und Schatten
Es war nicht erst Pokémon-Go, das ein bizzares Stadtbild von Menschen schuf, die gehend nur mehr auf ihre kleinen Bildschirme starrten. In Antwerpen gibt es sogar eigene „Text Walking Lines“ für Fußgänger. Und Augsburg hat die Fußgängerampeln auf den Boden gebracht, der Blick nach unten muss so nicht unterbrochen werden auf dem „Smombie-Trail“.
Ein niederländischer Spielfilm aus 2014 namens „APP“ zeigt, wie eine App die Smartphones und Tablets infiziert und selbstständig das Leben der Betroffenen verändert. Ein wirklich packender Thriller über die Konsequenzen des digitalen Lebens.
https://www.youtube.com/watch?v=1D2MGaz5-mg
Solche Entwicklungen zählen für den Theologen Werner Tiede vermutlich zum digitalen Massenwahn, von dem er in seinem Buch schreibt. Er ortet einen erneuten Turmbau zu Babel. Als der Mensch sich anmaßte aus eigener Kraft den Himmel zu erreichen, da wurde Gott der Bibelgeschichte nach zornig. Er zerstörte den Turm, zerstreute die Menschen und sorgte dafür, dass sie alle eine andere Sprache sprachen. Der Salzburger Pfarrer Heinrich Wagner sieht Babel hingegen anders: Gott verwirrte zwar die Sprachen, aber er schuf damit auch die Vielfalt. Erst so hatte der Mensch die Chance, von seiner besessenen Idee des Turms aufzusehen und sich weiterzuentwickeln.
Foto: Der mediale Turm zu Babel in Salzburg (Sankt Elisabeth Kirche)
Selbst Pokémon-Go hat, neben all der negativen Berichterstattung, schon positiv Schlagzeilen gemacht. Es soll beispielsweise soziale Kontakte fördern. Die Bewegung an der frischen Luft beeinflusst depressive Verstimmungen positiv. Noch mehr: Die Mutter eines autistischen Kindes jubelt, weil ihr Sprössling zum ersten Mal seine Routine durchbricht und durch das Spiel Kontakt zu seiner Umgebung aufnimmt.
Die dunkle Seite der Medaille
Kulturpessimisten runzeln trotzdem besorgt die Stirn. Derzeit wird ausreichend vor einer neuen, asozialen Generation gewarnt die, wenn wir sie weiter mit ihren Smartphones ohne Kontrolle ins digitale Nirvana abtauchen lassen, wohl gar nicht mehr ins echte Leben findet. Es drohen Oberflächlichkeit, fehlende Orientierung, ADHS, Vereinsamung und Verblödung.
Es besteht kein Zweifel: Die Flut an Information kann besonders Kinder schnell überfordern. Sie haben noch nicht die Fähigkeit Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Selbst Erwachsene tun sich damit oft schwer. Das Informationsgewitter blockiert die Reifung des Gehirns. Kopfschmerzen, Hyperaktivität und Schlafstörungen können die Folge sein. Wer ausschließlich wischt, scrollt und überfliegt, hat irgendwann Schwierigkeiten komplexeren Inhalten konzentriert zu folgen. Laut einer Studie von Nokia nutzen junge Menschen täglich im Schnitt 150 Mal ihr Smartphone und unterbrechen somit alle sechs Minuten ihre Arbeit. Wissen wird nicht mehr im Langzeitgedächtnis verinnerlicht, sondern nur mehr oberflächlich konsumiert.
Geboren um zu konsumieren
Und das ist vielleicht sogar gewollt. Es ist längst kein Geheimnis, dass unsere Welt auf Konsum ausgerichtet ist. Nur so klappt Wachstum und Wohlstand. Oder wie Brad Pitt es im Film Fight Club ausdrückt: „Advertising has us chasing cars and clothes, working jobs we hate so we can buy shit we don’t need.“ Die mediale Dauerbeschallung lässt uns glauben, dass nur dieses Auto oder diese eine Sonnenbrille uns zu vollständigen, zufriedenen Menschen macht. Sie docken dazu bewusst an einer ganz bestimmten Schwachstelle an, dem Zweifel an uns selbst: Bin ich denn wirklich gut, so wie ich bin? Die Antwort aus den Lautsprechern lautet: „Nein“. Denn: „Erst wenn du kaufst, dann bist du glücklich.“ Und weiter: „Dazu brauchst du mehr Geld, also arbeite bitte mehr, damit du nie aufhörst zu kaufen.“
Digitale Medien heizen diesen Teufelskreis zusätzlich an: Wer E-Mail, Facebook, Google & Co benutzt, hinterlässt im Web ausreichend Spuren, die es der Industrie noch leichter macht, die passenden Produkte und Botschaften an uns zu richten. „Big Data“ analysiert akribisch unser Verhalten um unsere zukünftigen Kaufentscheidungen bewusst zu lenken. Und das bereits bei Kindern. Doch nicht nur die Mode und Autoindustrie hat größtes Interesse daran uns beim Geldausgeben zuzusehen. Auch die IT-Welt selbst hat große Dollarzeichen in den Augen, wenn sie – entgegen vieler Expertenmeinungen –die Nutzung von Tablets schon bei den kleinsten Schulkindern unter dem Deckmantel der Bildung forciert.
Für immer Konsumzombies?
Wir laufen also im Hamsterrad der Arbeitswelt und immer noch wird uns suggeriert, wir hätten nicht genug. So strampeln wir weiter um unsere vermeintlichen Wünsche zu erfüllen. Eins bekommen wir in diesem hastigen Dauerlauf jedoch nie: Den Kopf frei. Und so vergeht die Chance, kritischen Gedanken Raum zu geben. Unsere natürlich limitierte Aufmerksamkeit wird durch das Informationsfeuer zusätzlich überreizt, unsere Gedanken noch weiter zerstreut, bis wir uns letztendlich selbst schon gar nicht mehr richtig wahrnehmen. Womöglich ist das auch gewollt, meint Peter Hensinger, Vorstandsmitglied von Diagnose-Funk e.V, in seiner Analyse „Big Data“: „Die Reizüberflutung verhindert die Selbstkontrolle und löst Stress aus. Dadurch entsteht eine reduzierte und selektive Weltanschauung, ein für den Konsum konditionierter Mensch.“ Schließlich werden die Reichen nur dann reicher, wenn alle Hamster brav im Rad bleiben.
Doch wie kann eine Lösung aussehen? Sind wir dazu verdammt, aufs Smartphone starrend wie blinde Konsumzombies durch die Welt zu laufen? Wenn wir entscheiden, uns der fortschreitenden Technologie zu verschließen, verpassen wir nicht nur den Anschluss sondern klammern uns aus der Gesellschaft aus. Die digitale Revolution war und ist nicht aufzuhalten. Es muss allerdings dringend hinterfragt werden, wie wir die Vorzüge der schönen, neuen Welt genießen und dabei gleichzeitig die Risiken klein halten können.
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