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Handschrift ist ein ästhetisches Erlebnis

Schnelleinstieg mit dem Podcast im Deutschlandfunk

Hören Sie einen Einstieg ins Thema im Deutschlandfunk (11:23 min).

 

Meine neue Handschrift konnte kein Mensch lesen

Um es vorweg zu nehmen, ich habe mir als Erwachsener das Handschreiben autodidaktisch wieder beigebracht. Das war mit so mancher Anstrengung und frustrierenden Erlebnissen verbunden. Ich konnte mein eigenes Geschreibsel nicht lesen, meine Hand tat mir weh, mein alter Füller funktionierte nicht mehr, weil die Feder seit 20 Jahren nicht mehr genutzt wurde, meine Gedanken klecksten so langsam auf das Papier, dass sie verflogen waren, bevor sie niedergeschrieben werden konnten. Nach mehr als 5 handgeschriebenen Seiten brauchte ich eine Pause und war froh, dass ich wieder auf der Tastatur hacken konnte. Also? Alles wieder in Ordnung?

 

Kinder verlernen, was wir wieder erlernen wollen

Eine Umfrage unter 1.900 Lehrerinnen und Lehrern ergab, dass 30 Prozent aller Mädchen und 50 Prozent aller Jungen Probleme damit haben, flüssig Schreiben zu lernen. In der weiterführenden Schule seien gar 40 Prozent der Schüler nicht in der Lage, eine halbe Stunde ohne Probleme durchzuschreiben.

 

Wer denkt, dass wir Menschen eh nicht mehr Handschreiben, weil wir unsere Kommunikation mit Sprachboxen und Robotern durchführen, der soll darauf verzichten. Doch ihm wird etwas fehlen, denn Handschreiben ist eine Meisterleistung des Gehirns. Während beim Tippen das Gehirn lediglich eine kleine Hirnregion für die Fingerkoordination aktiviert, läuft beim Handschreiben das Gehirn auf Hochtouren.

 

Das ist natürlich nicht nur gut für das Schreiben als kreativen Prozess, sondern auch für das gesamte feinmotorische Gefühl des eigenen Körpers. Schreiben ist auch im Prozess der Ausübung ein Erlebnis der eigenen Körperwahrnehmung. Tippen bietet das nicht. Die Emotion, die beim Schreiben entstehen kann, spiegelt sich in der Handschrift wider. Erregung, Leidenschaft zeigt ein anderes Schriftbild als Ärger oder Frust.

 

Schreiben schult die Feinmotorik und fordert das ganze Gehirn

Es werden Laute und Worte in eine feine, sehr präzise Handbewegung umgewandelt. Hier kommt das motorische System des Hirns ins Spiel, das unsere Bewegungen steuert. Wer schreibt, aktiviert also verschiedenste Areale seines Gehirns, im Besonderen die Hirnregionen, die für die motorischen Bewegungen notwendig sind. Und es sind nicht nur jene für die Finger- und Handbewegungen, sondern auch dieselben, die für die Steuerung größerer Bewegungsradien unseres Körpers hilfreich sind.

 

Sally Payne von der „Heart of England foundation NHS Trust“ sagt, wenn man Kindern heute einen Stift in die Hand gibt, sind sie nicht in der Lage, den Stift zu halten: „When children are given a pencil at school, they are increasingly unable to hold it.“ Da darf man fragen, wie diese Kinder dann einen Schraubenzieher in der Hand halten können, um eine Schraube anzuziehen. Aber vielleicht brauchen die Menschen das auch nicht mehr. Eigentlich sind feinmmotorische Aktivitäten eh für die Katz. „Die KI-Roboter kommen, die machen das alles.“ sagte mir ein Vortragsteilnehmer.

 

Trend Lebensunfähigkeit

Es bleibt abzuwarten, wie sich Menschen und die Gesellschaft beim Abbau wichtiger physiologischer und neurologischer Grundlagen entwickeln wird. Meine These? Sie werden lebensunfähiger als es die Vorgänger-Generationen sein werden. Auch wenn es keinen wissenschaftlichen kausalen Bezug zwischen der digitale Mediennutzung und dem Verlust unserer Kulturtechniken gibt, der Trend gibt eindeutige Zeichen. Und wenn man es sich mit dieser Meinung in der Digital-Euphorie unseres Landes lächerlich machen mag, die Lachenden spüren es selber: Handschreiben können sie nicht mehr und verhöhnen damit unsere Kultur.

 

Was habe ich gelernt?

Nachdem ich 25 Jahre die Tastaturen vom Comodore bis hin zur  iPad-Tastatur dauerbehackt habe, kaufte ich mir vor drei Jahren einen Füller und eine „Kladde“. Nach drei Jahren bin ich heute wieder in der Lage, einen mehrseitigen Handschriften Brief zu schreiben. Der Empfänger fiel aus allen Wolken, als er diesen bekam. Das Handschreiben auf dem iPad habe ich mir auch angewöhnt und setze Papier und Tablet komplementär ein, je nach Lust und Laune, Hauptsache mit der Hand schreiben.

 

Tipps für den Motorik-Legastheniker und Wiedereinsteiger

  • Kaufen Sie sich einen anständigen Füller mit einer breiten Feder. Die gibt es schon ab Euro 50,-. Ich habe mir einen Parker mit breiter Goldfeder zugelegt. Er ist neben seines einfachen Schwunges auf dem Papier auch ein neues ästhetisches Erlebnis für mich.
  • Schreiben Sie nicht zuerst einen Brief, sondern beginnen Sie, Ihre Notizen eines Gespräches in eine Kladde zu schreiben. Es gibt für wenig Geld wunderbare Kladden mit tollem Papier. Auch das ist heute ein Luxusobjekt. Ich werde darauf mehr angesprochen als auf mein sauteures iPad.
  • Vermeiden Sie lose Blätter, die finden sie nie mehr wieder heutzutage. Papiernotizen können Sie mit Ihrem Smartphone scannen, archivieren und teilen. Die App heisst „Scannable“ für alle Systeme und hat eine irre Verbindung zu „Evernote“ Die gescannten PDFs finden Sie übrigens schneller wieder als mit der iPad-Schreib-Software „Goodnotes“
  • Schreiben Sie einem alten Schulkollegen oder Ihrer Ex, von dem/der Sie lange nichts gehört haben, einen handschriftlichen Brief. Je nach emotionaler Grundlage Ihres Verhältnisses: Er oder Sie wird aus den Socken fallen, wenn im Briefkasten zwischen den 2 Kg Papierwerbungen ein Brief von Ihnen liegt. Antwort? Bekommen Sie garantiert! Viel Erfolg.

 

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2 thoughts on “Handschrift ist ein ästhetisches Erlebnis

  1. Ein wunderbares Experiment und das Ergebnis gefällt mir sehr.
    Ich hab mir zum Anfang des Jahres ein schönes leeres Buch gekauft und schreibe erlebtes hinein. Ein schönes Prozess sich mit seinen Gedanken und Gefühlen auseinander zusetzen.
    Danke für den Beitrag.

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